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Clärchens Ballhaus: Der Tanz geht in die nächste Runde

Clärchens Ballhaus: Der Tanz geht in die nächste Runde
Februar 2025

Da kann das Berghain nicht mithalten: Ein paar Schritte von den Hackeschen Höfen entfernt in der Auguststraße hält sich seit 1913 eine Institution des Berliner Nachtlebens: Clärchens Ballhaus. Unter weiblicher Führung hat es zwei Weltkriege, den Sozialismus und sein Ende überstanden. Mehr als ein Jahrhundert wurde hier durchgefeiert. Nach behutsamer Renovierung beginnt im Jahr 2024 eine neue Ära.

Vor Techno kam Tango

Party-Metropole war Berlin schon in der Kaiserzeit. Die Reichshauptstadt war berühmt-berüchtigt für ihr Nachtleben und für lockere Sitten. Zum Amüsierbetrieb gehörten bis zu 900 Ballhäuser. Die Tanz- und Esslokale waren Treffpunkte für Menschen aller Gesellschaftsschichten, die zu bezahlbaren Preisen dem Alltag entfliehen wollten.

Die Musik kam natürlich noch nicht aus der Konserve, hier spielten Tanzkapellen auf – zu Walzer und Polka, zu Shimmy, Charleston und Swing.

„Bühlers Ballhaus“, im Jahr 1913 eröffnet, wurde von den Gästen schon bald nach seiner Chefin benannt: Die aus einfachsten Verhältnissen stammende Clara Bühler war eine für ihre Zeit ungewöhnlich selbstständige und erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie führte das Haus über 50 Jahre hinweg, bis sie in den 1960er-Jahren an ihre Stieftochter übergab. 1971 stirbt Clara in ihrer kleinen Wohnung über den Ballsälen. 90 Jahre blieb ihr Ballhaus ein Familienunternehmen – davon 40 Jahre im Sozialismus.

Ballhaus-Gäste in den 1920er-Jahren ©Marion Kiesow / Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus
Ballhaus-Gäste in den 1920er-Jahren ©Marion Kiesow / Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus

Der große Saal im Erdgeschoss war ursprünglich japanisch dekoriert, abends verwandelten ihn eine Vielzahl bunter Lampions in einen „Lichtwundersaal“.

Darüber liegt der Spiegelsaal, der mit Wandmalereien und Reliefs, hohen Spiegeln und Kronleuchtern prunkvoll ausgestattet wurde. Im Zweiten Weltkrieg richtete hier die Wehrmacht einen Kommandostab ein, in der Nachkriegszeit wurde er nur noch als Abstellraum und als Ersatzteillager für das Parkett im Erdgeschoss genutzt. Der jahrzehntelange Dornröschenschlaf führte dazu, dass der zauberhafte Spiegelsaal weitgehend im Originalzustand erhalten blieb.

Noch Jahre nach dem Krieg zerschnitt Clärchen höchstpersönlich die zurückgelassenen Wehrmachtskarten zu Toilettenpapier. 

Der Spiegelsaal im Obergeschoss
Der Spiegelsaal im Obergeschoss
Der Ballsaal in den 1920er Jahren ©Marion Kiesow / Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus
Der Ballsaal in den 1920er Jahren ©Marion Kiesow / Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus
Auferstanden in Ruinen

Wie schon während des Ersten blieben auch im Zweiten Weltkrieg die Türen des Ballhauses geschlossen. Doch schon im Juli 1945 machte Clärchen wieder auf. Das Vorderhaus war zerbombt, erst im Jahr 1965 wurde die Ruine abgetragen. Heute wird die Fläche in den Sommermonaten als Biergarten genutzt.

Nach dem Zweiten Krieg ist die große Zeit der Ballhäuser vorbei. Im Westteil der Stadt hat keines überdauert. In Kreuzberg, Neukölln und Wedding werden drei Ballhäuser heute kulturell genutzt. In Mitte sind auch in der Ackerstraße und Chausseestraße Ballhäuser erhalten geblieben.

Während der 40 Jahre Sozialismus verfällt in der Auguststraße und ihrer Nachbarschaft die Bausubstanz, die den Krieg überstanden hat. Die DDR konzentriert ihre knappen Ressourcen auf den Neubau von Plattenbausiedlungen. Immer mehr Menschen ziehen aus den maroden Altbauten in Berlins Mitte an den Stadtrand. Doch auch die Bewohner der öden Vorstädte schätzen Clärchens Ballhaus weiterhin als ein Stück altes Berlin. Das Lokal bleibt populär, das Haus entgeht dem immer wieder angekündigtem Abriss.

Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus

Zahllose Legenden und Anekdoten ranken sich um das Traditionslokal. Hier verkehrt die trinkfeste „Wasserminna“, die in den 1920er-Jahren im benachbarten Zirkus Busch auf einem Pferd aus sechs Metern Höhe in ein Wasserbecken sprang; hier werden Devisengeschäfte auf der Toilette abgewickelt; hier fallen betagte Tanz-Maniacs auf dem Parkett tot um. „Harry der Keusche“, ein Tanzmeister, Kellner Günther Siegel, Günther Schmidtke an der Garderobe oder Türsteher Klaus Schliebs prägen das Ballhaus über Jahrzehnte und werden zu lokalen Berühmtheiten.

Grafikerin und Autorin Marion Kiesow hat all diese Geschichten in jahrelanger Recherche gesammelt und erzählt sie auf über 400 Seiten in ihrem Buch „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ – aber auch an Ort und Stelle. Einmal im Monat bietet Marion Kiesow am Sonntag Nachmittag Führungen an.

„Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus” von Marion Kiesow, Bebra Verlag
„Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus” von Marion Kiesow, Bebra Verlag

Leichtlebige Personen

In ihr „Ballhaus kann eine Frau allein kommen, ohne schief angesehen zu werden“, befand die Patronin Clärchen. Dieser Ort bot auch Frauen die Gelegenheit zum Flirten, zu einem flüchtigen Abenteuer oder gar einem Seitensprung. Zum Beispiel bei der seit den 1920er-Jahren gerne gepflegten Damenwahl, bei der Frauen die Männer zum Tanz aufforderten – die nicht ablehenen durften. Unzählige Paare haben sich hier gefunden, für immer oder auch nur eine Nacht.

Zu Zeiten der DDR mischten sich Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes unter die Gäste und berichteten, das Ballhaus sei ein „bevorzugter Aufenthaltsort für leichtlebige Personen beiderlei Geschlechts“. Argwöhnisch wurde das Anbandeln zwischen Soldaten der NVA (Nationale Volksarmee) und Damen mit HWG beobachtet. Das Kürzel stand für „häufig wechselnden Geschlechtsverkehr“ und wurde Frauen angehängt, die im Verdacht standen, der Prostitution nachzugehen. Noch problematischer waren in den Augen der Stasi natürlich Kontakte zwischen Ostberlinerinnen und Besuchern aus dem NSW, dem „nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebiet“. Die kamen in den 1970er-Jahren immer zahlreicher, denn im Ostteil konnte man als Westler auch mit wenig Geld „einen auf dicke Hose machen“. Darunter waren, so berichtet Autorin Marion Kiesow, auch zahlreiche Gastarbeiter aus Westberlin. Die punkteten bei den einheimischen Damen nicht nur mit D-Mark und Strumpfhosen, sondern auch mit ihrer ansprechenden äußeren Erscheinung.

Lange bevor das Wort „Darkroom“ in den Berliner Sprachschatz einging, soll es Gerüchten zufolge vorgekommen sein, dass sich Gäste in dringenden Fällen stundenweise in ein Zimmer in den leerstehenden Obergeschossen zurückziehen konnten – nach Zahlung eines großzügigen Trinkgeldes an den Oberkellner. Selbst in den Büschen vor dem Haus soll es zum Äußersten gekommen sein.

Ins Ballhaus kann eine Frau allein kommen: Gäste in den frühen 1960er-Jahren. ©Marion Kiesow / Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus
Ins Ballhaus kann eine Frau allein kommen: Gäste in den frühen 1960er-Jahren. ©Marion Kiesow / Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus
Neue Besitzer, neue Konzepte

Im Wendejahr 1989 übergibt Clärchens Stieftochter Elfriede Wolf das Haus an Sohn und Schwiegertochter. Die Stadt ist im Um- und Aufbruch, überall sprießen neue Bars und Techno-Clubs aus dem Boden. Clärchens Ballhaus setzt dagegen weiter auf Tradition. Bis 1997 wird noch Livemusik gespielt, danach spielen DJs eine bunte Mischung von Walzer bis AC/DC.

Im Jahr 2003 wird das Gebäude von Claras Erben verkauft, der neue Besitzer kündigt den Betreibern. Damit endet die Geschichte des Ballhauses als Familienbetrieb nach 91 Jahren. Die neuen Pächter, zwei Theater-Impresarios, starten im Jahr 2005. Sie bewahren den historischen Charme, möchten mit Pizza und Disko jedoch eine buntere Mischung von Gästen ansprechen. 2018 erwirbt der Kulturinvestor Yoram Roth das Haus, die bisherigen Betreiber müssen sich zwei Jahre später verabschieden.

Nach einer Corona-bedingten Verzögerung wird das Haus umfassend renoviert und im September 2024, zum 111. Jubiläum, wiedereröffnet.


Im Jahr 2014 war das Ballhaus noch ein Ballhaus. ©Bernd Schönberger
Im Jahr 2014 war das Ballhaus noch ein Ballhaus. ©Bernd Schönberger
Essen statt tanzen: Das „Luna d’Oro” wurde von Szenenbildner Uli Hanisch gestaltet.
Essen statt tanzen: Das „Luna d’Oro” wurde von Szenenbildner Uli Hanisch gestaltet.
Patina in neuem Glanz

Clärchens Ballhaus erstrahlt nach der Renovierung in neuem und altem Glanz. Die einschneidendste Veränderung: Der Saal im Erdgeschoss ist jetzt, im Restaurant „Luna d’Oro“, nur noch dem Verzehr gewidmet. Der Name erinnert an die Tänzerin Lisbeth Dorowski, die früher hier verkehrt sein soll. Die Tanztradition des Hauses wird fortan nur noch im Spiegelsaal weitergepflegt. Dort, im Obergeschoss, finden mehrmals in der Woche Tango-, Swing-, Salsa- und Discofox-Workshops mit anschließenden Tanzabenden statt. Für die seit Anfang 2025 monatlich veranstaltete Ballhaus-Disko sind die Karten schon lange im Voraus vergriffen.

Die Devise bei der Modernisierung war, möglichst viel Patina zu erhalten. Die Außenfassade sieht tatsächlich so abgebröckelt aus wie eh und je. Auch im Innenraum sind viele Elemente der alten Ausstattung erhalten geblieben. Doch der Saal des „Luna d’Oro” wurde von Szenenbildner Uli Hanisch („Babylon Berlin”) völlig verwandelt. Auf dunkel patinierten Wänden schimmern japanisierende Wandmalereien durch, die an die ursprüngliche Gestaltung der 1920er-Jahre erinnern. Die dunkelroten Samtbezüge der Sitzgelegenheiten kontrastieren wirkungsvoll zu den dunklen Holztönen von Mobiliar und Parkett. Sparsame und gezielte Beleuchtung rundet die Rauminszenierung ab. Der alte Kachelofen wirkt wie eine Kostbarkeit. Alt ist nicht mehr abgerockt, alt ist edel.

Anders als der exotisch klingende Name und das erlesene Interior-Design vermuten lassen, fühlt sich die Küche des „Luna d’Oro“, der bodenständigen Tradition des Ortes verpflichtet. Auf der Speisekarte werden als Vorspeise frittierte Spreewaldgurken angeboten, großer Beliebtheit erfreuen sich auch die Mett-, pardon, „Tatar-Igel“. Als Hauptgerichte gibt es Königsberger Klopse und Kalbsleber Berliner Art, als Nachtisch Wackelpudding mit Vanillesoße.

Nach der Renovierung bleibt Clärchens Ballhaus ein Ort zum Essen, Feiern und Tanzen. Gleichzeitig ist es ein lebendiges Zeugnis Berliner Geschichte im historischen Zentrum der Stadt – so wie die sechs Minuten Fußweg entfernten Hackeschen Höfe.

Restaurant Luna d'Oro: Ironische Referenzen an die bodenständige Ballhaus-Tradtion ©Konrad Bauer
Restaurant Luna d'Oro: Ironische Referenzen an die bodenständige Ballhaus-Tradtion ©Konrad Bauer